Indiens Demokratie bietet viel Raum und Anlass für politische Debatten. Aber Außenpolitische Themen haben dabei eine eher untergeordenete Rolle und die Europäische Union (EU) spielt in der öffentlichen Wahrnehmung ein Stiefmutterdasein. Traditionell interagieren indische Regierungen lieber mit den nationalen Regierungen der übernationalen Staatengemeinschaft als mit der in ihren Augen künstlichen kontinentalen Führung in Brüssel.
Zuletzt hat dies Ministerpräsident Narendra Modi, der durch seine ausgreifende, multidimensionale Außenpolitik von sich reden macht, wieder deutlich gemacht. Bevor er Ende März –nach fast zwei Jahren Amtszeit – zu seinem Antrittsbesuch nach Brüssel reiste, hatte er bereits in Berlin, in Paris und in London an den Schaltstellen der Macht in Europa Verhandlungen geführt.
Die politische Geringschätzung der EU zeigt sich auch in der weitgehenden medialen und politischen Indifferenz in Bezug auf ein Thema, das auf dem alten Kontinent und weit darüber hinaus die Gemüter bewegt: die für den 23. Juni angesetzte Abstimmung der Briten über einen Verbleib in der Union oder einen Austritt. Die diesbezüglichen Kommentare in den großen meinungsbildenden Blättern des Commonwealth Mitglieds Indien können an den Fingern einer Hand abgezählt werden.
Nicht alle Inder sind derart desinteressiert an diesem weltpolitischen Top-Thema. Für einiges Aufsehen sorgte Ende Februar die Erklärung des indischen Industrieverbandes FICCI (Federation of Indian Chambers of Commerce and Industry). In einer für die Lobbyorganisation seltenen Erklärung zu innenpolitischen Streitfragen eines Partnerlandes bezog Generalsekretär Dr. A Didar Singh eindeutig Position: Ein Austritt Großbritanniens aus der EU würde die Bedeutung dieses Landes für indische Investitionen negativ betreffen. „Dies würde erhebliche Unsicherheiten für indische Unternehmen im Vereinigten Königreich mit sich bringen mit absehbar negativen Auswirkungen auf deren Investitionen.“
Vor allem aus historischen Gründen, die mit dem britischen Kolonialismus in Südasien zusammenhängen, hat Großbritannien für Indien und die Inder seit jeher eine Sonderstellung. Diese zeigt sich auch an den Wirtschaftsbeziehungen: Nach den USA und Frankreich ist Indien der wichtigste Investor auf der Insel. Die Zahl der indischen Unternehmen dort wird mit 800 beziffert, die 110.000 Arbeitsplätze bereitstellen.
Indische Diaspora kämpft für und gegen den Brexit
Ein Erbe des Empire ist auch die kopfstarke indisch-stämmige Diaspora, die wie kaum eine andere Migrantengemeinde längst das öffentliche Leben in Großbritannien mitbestimmt. Am 23. Juni sind 1, 2 Millionen indisch-stämmige Briten wahlberechtigt. Die Diaspora ist politisch bestens vertreten und aktiv – und auf beiden Seiten – in die politischen Kampagne über den EU-Verbleib involviert. Die Auswirkungen auf die Beziehungen zum ehemaligen Mutterland Indien spielen bei den jeweiligen Argumenten eine wichtige Rolle.
Kürzlich haben sich 15 indisch-stämmige Unterhausabgeordnete zu der partei-übergreifenden Plattform „British Indians for IN“ zusammengefunden. Neben den gängigen Pro-EU-Parolen vertritt die Gruppe auch den Standpunkt, ein Verbleib Londons in der Gemeinschaft „stärke die Partnerschaft mit Ländern wie Indien“.
Nicht alle sehen das so. An der Spitze der indisch-stämmigen Brexit-Befürworter steht Priti Patel. Die Tochter indischer Einwanderer aus Uganda ist im Tory-Kabinett Staatsministerin für Arbeit. Frau Patel scheut nicht davor zurück, die Europäische Union für den Stillstand in den Verhandlungen zwischen Neu Delhi und Brüssel über ein umfassendes Freihandelsabkommen verantwortlich zu machen. „Die EU schafft Barrieren für den Handel und begrenzt Einfuhren (aus Indien)“, sagt die Ministerin. Befreit von „protektionistischen Attitüden“ der Brüsseler Bürokraten könne Großbritannien schnell zu einem bilateralen Handelsvertrag mit Indien kommen.
„Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat Indien auch nicht geschadet“
In Brüssel und in den anderen Hauptstädten der EU, sieht man die Verantwortung für den Stillstand der Verhandlungen über ein „Bilateral Trade und Investment Agreement“ anders. Dort moniert man vor allem die hohen indischen Einfuhrzölle, die für Autos und ausgewählte Agrarprodukte bis zu 100 Prozent erreichen. Vor allem Deutschland und Frankreich würden von einem Abbau dieser Zölle profitieren, Großbritannien weniger. Indische Gesprächspartner räumen ein, dass Neu Delhi die Zölle aufrechterhalten wird, vor allem um die heimische Auto-Produktion zu schützen. Diese Industrie und ihre vielen heimischen Zulieferer bilden das Herzstück der „Make-in-India“-Kampagne, mit der Ministerpräsident Modi die inländische Industrieproduktion auf Vordermann bringen will. Im indischen Machtzentrum hat sich die Einsicht, dass Freihandel mehr Chancen bietet als die handelspolitische Abschottung längst nicht durchgesetzt.
Derweilen wird die EU-Delegation in Neu Delhi nicht müde, darauf hinzuweisen, das Europa der mit Abstand wichtigste Handelspartner Indiens ist und ein Freihandelsabkommen eine Win-Win-Lösung darstelle, die vor allem den Indern zugutekommt.
Aber diese Botschaft dringt nicht durch, ebenso wenig wie die unterschiedlichen Standpunkte in der Frage der britischen EU-Mitgliedschaft. Für die große Mehrheit der Menschen auf dem Subkontinent ist das Europa-Thema ebenso wie ein möglicher EU-Austritt der einstigen Kolonialmacht ohne Bedeutung. Der bislang einzige Kommentar der führenden Tageszeitung des Landes „The Times of India“ endet mit dem Hinweis, Europas Turbulenzen seien nützlich für Indien: „Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat Indien ja auch absolut nicht geschadet.“
Dr. Ronald Meinardus ist Leiter des Regionalbüros Südasien der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit in Neu Delhi. Twitter: @Meinardus