China

Wir, im Zentrum der Welt

Uns interessiert, was uns nahe ist. Die wichtigen Veränderungen finden aber oft in der Ferne statt.

Philipp Mattheis Von Philipp Mattheis
29. April 2016, China, Indien, Türkei
Skyline von Pudong in Shanghai

Zwei Tage, bevor ich in der Türkei ankam, explodierte eine Bombe vor der Blauen Moschee. Zehn deutsche Touristen starben. Vor vier Wochen dasselbe auf Istiklal-Straße. Zwischendrin gingen noch zwei weitere Bomben in Ankara hoch, mit der EU wurde ein Deal über die Rückführung von Flüchtlingen geschlossen und der türkische Präsident bestellte wegen einer Satire-Sendung von Extra3 den deutschen Botschafter ein. Der Komiker Jan Böhmermann setzte mit einem „Schmäh-Gedicht“ noch einen drauf.

Es sieht so aus, als sei ich als Journalist am richtigen Ort gelandet. Kaum ein Tag vergeht, an dem in den Nachrichten nicht die Türkei oder Syrien erwähnt werden. Von China, Indien oder gar Indonesien hören wir dagegen meistens nur bei Katastrophen.

Der Nahe Osten ist uns näher, das sagt schon der Name – nicht nur geografisch. Er betrifft unseren Alltag mehr – nicht nur, weil plötzlich Menschen von dort zu uns kommen. Auch weil wir vier Millionen Staatsbürger mit türkischen Wurzeln haben. Und weil die meisten Menschen, die sich zur Zeit in Europa in die Luft sprengen, leider aus dieser Region der Welt kommen.

Shanghai

Skyline von Shanghai

Trotzdem finden die Veränderungen, die unsere Welt in den nächsten 30 Jahren prägen werden, weiter in der Ferne statt. Ein paar Zahlen, um das zu verdeutlichen: Zwischen 2011 und 2013 verbrauchte 6,6 Gigatonnen Stahl. Das ist mehr als die USA zwischen 1901 und 2000.

Im Jahr 1800 wurde ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung von China erwirtschaftet. 1950, nach Bürgerkriegen, Revolution und zwei Weltkriegen, war der Anteil auf vier Prozent gesunken. Momentan trägt China wieder rund 18 Prozent bei. Das zeigt: Chinas Aufstieg ist nicht die Anomalie. Die historische Anomalie lag im den 100 Jahren zuvor, als Chinas Rolle für die Welt nahezu unbedeutend war.

Stahlwerk in der chinesischen Provinz Hebei

Stahlwerk in der chinesischen Provinz Hebei

Das deutsche Handelsvolumen mit China lag 2015 bei 163 Milliarden Euro. Mit Türkei wurden Waren im Wert von rund 30 Milliarden ausgetauscht. Istanbul ist eine wunderschöne Stadt und sie ist pulsierender als jede europäische Metropole. Im Vergleich gegen die Geschäftigkeit und Bauaktivitäten ostasiatischer Metropolen wie Shanghai, Hongkong oder Tokio aber wirkt die Stadt zahm.

Die Wirtschaftsleistung des gesamten Nahen Ostens macht dagegen weniger als zehn Prozent des Welt-BIPs aus. Viele Volkswirtschaften der Region basieren auf einem einzigen Rohstoff. In welche Schwierigkeiten sie geraten, zeigen die Entwicklungen der letzten Jahren. Erst bedroht eine neue Förder-Technik aus den USA die Haupteinnahmequelle der Golfstaaten. Um den Fortschritt aufzuhalten, erhöht Saudi-Arabien die Fördermengen dann derart, dass der Ölpreis abstürzt. Jetzt stehen die Haushalte der meisten Golfstaaten unter enormen Druck. Die Instabilität der ohnehin fragilen Gebilde Saudi-Arabien, Ägypten und Irak nimmt bedrohliche Formen an. Man stelle sich nur vor, der nächste Bürgerkrieg breche in Ägypten aus. Das hätte eine Flüchtlingskatastrophe zur Folge. Nur leben in Ägypten nicht 17, sondern 90 Millionen Menschen. Die Entwicklungen in unserer Nachbarschaft werden uns noch auf Jahre beschäftigen.

Hochgeschwindigkeits-Bahnhof in Hangzhou

Hochgeschwindigkeits-Bahnhof in Hangzhou

Wir interessieren uns für das, was wir kennen. Neuigkeiten verdauen wir immer dann gut, wenn sie auf Altbekanntes treffen. Komplett Unbekanntes dagegen ist nur schwer zu verarbeiten. Auch das ist ein Grund, weshalb wir uns weniger für das interessieren, was im Fernen Osten geschieht.

Indien aber wird 2030 mit 1,5 Milliarden Menschen die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sein. China wird – sofern es zu keinem größeren Krieg kommt – mit den USA das wichtigste Land der Welt sein. Es wird die internationale Politik ähnlich stark prägen, wie es heute die USA tun. Wer erfolgreich sein möchte, wird Chinesisch lernen müssen. Schließen sich die europäischen Staaten und die USA nicht enger zusammen, wird China vor allem erstere marginalisieren.

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