Auf einer abgelegenen Hochebene im Himalaya wäre vor wenigen Tagen beinahe ein Krieg zweier Atommächte ausgebrochen: Mehr als zwei Monate hatten sich indische und chinesischen Truppen im Himalaya belagert. Indien schickte Soldaten, weil die Chinesen auf dem bhutanischen Hochplateau Doklam eine Straße bauen wollten. Grenzstreitigkeiten gab es in den vergangenen Jahren immer wieder zwischen den beiden Atommächten. Doch selten waren sie so hitzig und dauerten so lange.
Gerade noch rechtzeitig vor dem Brics-Gipfel in China fanden die Diplomaten eine Lösung: Die umstrittene Straße wird vorerst nicht gebaut. Und auch auf dem Gipfel selbst zeigten sich die Atommächte dann in tiefer Eintracht: Ein Vieraugengespräch mit Chinas Präsidenten Xi Jinping bezeichnete der indischen Regierungschef Narendra Modi als “fruchtbare Unterhaltung”. Die chinesische Seite erinnerte schließlich an die historische Panchsheel-Vereinbarung, mit der sich beide Seite im Jahr 1954 eine friedliche Koexistenz zusicherten. Und man erfüllte den Indern einen lang gehegten Wunsch: Die Chinesen akzeptierten, dass die von Pakistan operierenden Gruppen Lashkar-e-Taiba und Jaish-e-Mohammad in der Abschlusserklärung auf einer Terrorliste explizit genannt wurden.
Verhältnis bleibt angespannt
Doch bereits kurz nach dem Gipfel, begannen schon wieder Sticheleien gegeneinander. China würde weiterhin versuchen, “Territorium von Indien wegzuknabbern”, sagte Indiens Armeechef Bipin Rawat bei einer Veranstaltung in Neu Delhi. Sowohl Pakistan als auch China seien eine Bedrohung für Indien.”Wir müssen auf einen Konflikt an der nördlichen und der westlichen Grenze vorbereitet sein.”
Die Aussage zeigt, dass Verhältnis zwischen den Nachbarn weiter angespannt bleiben dürfte. Beide Atommächte wollten in dem Doklam-Konflikt auch ihre Entschlossenheit in einer weit wichtigeren Meinungsverschiedenheit beweisen: Den Streit um Chinas milliardenschwere Seidenstraße-Initiative, mit der die Volksrepublik ein weit umspannendes Netz an Häfen, Straßen und Schienen zwischen Asien und Europa bauen möchte – viele davon mitten in einem Gebiet, das Indien als seine Einflusssphäre betrachtet.
Indien hat gleich mehrere Kritikpunkte an der Mega-Initiative der Chinesen: Geo-Strategen warnen unter anderem von einer “Perlenkette”, wie sie die Bedrohung nennen: Hafen für Hafen wird der Subkontinent langsam von chinesischen Häfen eingekreist. Ein zentralen Abschnitt der Seidenstraße, der China-Pakistan Economic Corridor, ist für Indien eine besondere Provokation: Das Vorhaben, in das China mehr als 50 Milliarden US-Dollar investiert, geht mitten durch einen von Indien beanspruchten Teil von Kaschmir.
Verzweifelt versuchen die Inder nun, der weitaus mächtigeren Volksrepublik Paroli zu bieten. Als China die Welt im Mai zum großen Seidenstraßen-Forum versammelte, schickte Indien nicht einen einzigen Offiziellen nach Peking – und drohte sogar nichtstaatlichen indischen Organisationen wie Handelskammern oder Thinks Tanks mit Sanktionen, sollten sie Mitarbeiter zu dem Treffen schicken. Kleine Staaten warnt Indien davor, die Seidenstraße-Initiative könnte sie in eine Schuldenfalle locken und zum Vasallen Chinas machen.
Wegen der chinesischen Expansionspläne in Eurasien treibt Indien seine eigenen bi- und multilateralen Infrastrukturprojekte nun deutlich schneller voran: Nur kurz nach dem Seidenstraßen-Gipfel im Mai verkündete Regierungschef Narendra Modi den Start des Asia Africa Growth Corridor (AAGC). Im Rahmen der Initiative sollen gemeinsam mit Japan rund 200 Milliarden US-Dollar in Häfen und weitere Infrastrukturprojekte in Asien und Afrika investiert werden.
Ein weiteres Gegenprogramm zur Seidenstraße-Initiative ist der International North-South Transit Corridor, der Süd-Asien mit Nordeuropa verbinden soll. An der Initiative beteiligen sich 13 Staaten, darunter auch die Türkei und Russland. 500 Millionen Dollar investierten die Inder dafür unter anderem in den Hafen Chabahar im Iran. Dass dieser auch als Konkurrenzprojekt zu China zu sehen ist, zeigt ein Blick auf die Karte: Nur 70 Kilometer entfernt baut die Volksrepublik den pakistanischen Hafen Gwadar aus – mit Milliardeninvestitionen. Er soll einer der Knotenpunkte der Seidenstraße-Initiative werden.