Für Indiens Ministerpräsidenten Narendra Modi begann das Jahr mit enttäuschendem Zahlenwerk: IWF und Weltbank hatten ihre Wachstumsprognosen für das Land 2017 nach unten korrigiert. Die einen von 7,6 Prozent auf 6,6 Prozent, die andren von 7,6 auf sieben Prozent. Die Institute begründeten dies mit der so genannten Demonetarisierung. In einem Überraschungscoup hatte Modi im November des vergangenen Jahres 86 Prozent der Geldscheine für ungültig erklärt. Damit wollte er Korruption und Schattenwirtschaft den Garaus machen. Es folgten Bargeldnot und eine Mini-Rezession; erst allmählich kehrte bei finanziellen Transaktionen Normalität zurück.
Die Zahlen von IWF und Weltbank betrübten die Regierung auch deshalb, weil so der inoffizielle Titel der „am schnellsten wachsenden großen Volkswirtschaft“ verloren ging – und zwar an den Rivalen China. Während Indien in den Prognosen ein paar Punkte hinter dem Komma verlor, legte China geringfügig zu – von 6, 5 auf 6, 7 Prozent.
Über die reale Bedeutung dieser Zahlen lässt sich streiten. In der öffentlichen Wahrnehmung spielen sie eine Rolle. Das gilt in Indien auch deshalb, weil es um China geht. Gerne stellen die Inder Vergleiche an in der Hoffnung, sie könnten den beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg der Chinesen kopieren. Das bleibt im Lichte der aktuellen Rahmenbedingungen eine aussichtslose Vorstellung. Mit einem Volumen von elf Billionen US Dollar ist die chinesische Volkswirtschaft fünfmal grösser als die Indiens. „Indien wird China 2022 zwar als das bevölkerungsreichste Land der Welt überrunden“,schreibt der Inder Ashok Swain in einem Blog-Beitrag. „Um China beim Prokopfeinkommen zu erreichen, muss Indiens Wirtschaft indes jedes Jahr um 30 Prozent wachsen.“
Dass Indien, wenn es um wirtschaftliche Dynamik geht, China nicht Paroli bieten kann, hat auch politische Gründe. In der größten Demokratie der Welt, wie Inder ihr Gemeinswesen mit berechtigtem Stolz gerne feiern, sind politische Entscheidungsprozesse lang und unberechenbar. Im Gestrüpp des Parteiengerangels und des Föderalismus sind viele wohlgemeinte Reformvorhaben hängengeblieben – oder verwässert worden.
Wie schwierig es ist, die wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu verbessern, muss auch Ministerpräsident Modi erfahren. Vor drei Jahren mit großer Mehrheit gewählt und mit dem Anspruch angetreten, das Riesenland in ein neues – modernes – Zeitalter zu führen, sind viele der Reformvorhaben noch in Arbeit, um es positiv auszudrücken.
Zu den Lieblingsprojekten des Ministerpräsidenten zählt das „Make in India“-Programm, das ausländische Investoren ins Land locken soll. Zwar sind die Anlagen aus dem Ausland in den zurückliegenden drei Jahren gewachsen, einen namhaften Beschäftigungseffekt hatte der Zustrom indes nicht. Indiens Investitionsklima verbessere sich eher schleppend, klagen Experten. Im vielbeachteten „Ease of Doing Business“-Report der Weltbank ist Indien unter Modi um einen Rang von Platz 131 auf Platz 130 vorgerückt. In einer Liste von 190 Staaten bedeutet das unteres Mittelfeld.
Dass Indien als Investitionsstandort Potential nach oben hat, belegt der aktuelle Geschäftsklimaindex der auf Indien spezalisierten Unternehmensberatungsfirma Wamser und Batra (WB): 29 Prozent der befragten deutschen Unternehmen beurteilen die aktuelle Geschäftslage in Indien als gut, 21 Prozent finden sie hingegen schlecht. Ein wenig besser sehen die Prognosen für die Zukunft aus: fast jedes zweite Unternehmen erwartet in den kommenden zwölf Monate einen günstigeren Geschäftsverlauf.
Ein Grund zur Hoffnung ist die einheitliche Waren- und Dienstleistungssteuer (Goods and Services Tax, GST), die nach jahrelangem Gerangel in diesem Jahr in Kraft treten soll und das Land mit seinen 1, 3 Milliarden Einwohnern endlich in einen einheitlichen Wirtschaftsraum verwandeln wird. Optimisten erwarten von dieser „Jahrhundertreform“ einen ordentlichen Wachstumsschub.
Wachstum ohne neue Arbeitsplätze
Am Ende wird Modis Wirtschaftspolitik daran gemessen werden, ob sie Arbeitsplätze schafft. In dieser Hinsicht ist Indien nicht anders als andere Länder. Hier sind die Herausforderungen gewaltig – und die Zwischenbilanz alles andere als rosig: Jedes Jahr drängen über zwölf Millionen junger Inder auf den Arbeitsmarkt; die Zahlen sind Schätzungen und variieren je nach der Quelle. Um das Datenwirrwarr in dem wichtigen Politikbereich zu beenden, hat Modi jetzt die Schaffung einer zuverlässigen Arbeitslosenstatistik angeordnet. Derweilen teilt der indische Unternehmerverband Confederation of Indian Industry (CII) mit, in den zurückliegenden Jahren seien jeweils nur 3, 6 Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden. Im Ergebnis habe nur jede vierte Arbeitssuchende eine Anstellung gefunden. Immer häufiger ist von „jobless growth“ die Rede, einem Wachstum ohne Beschäftigungseffekt.
Arbeitspolitische Diskussionen leiden in Indien darunter, dass sie oft nur einen Ausschnitt der Realität abbilden – und das Los der großen Mehrheit der Menschen allenfalls indirekt berücksichtigen. Neunzig Prozent der Erwerbstätigen verdingen sich im informellen Sektor; zehn Millionen registrierten Unternehmen stehen, nach amtlichen Informationen, 50 Millionen nicht-registrierte „Unternehmen“ gegenüber: zu diesen zählen das Heer der Straßenhändler, Riksha-Fahrer und all jene, die auf eigene Faust versuchen, ein in der Regel eher kärgerliches Einkommen zu erwirtschaften.
Der informelle Sektor ist die Lebensader der indischen Volkswirtschaft; die Integration dieses Sektors in die „formelle“ und „registrierte“ Wirtschaft ist ein Jahrhundertprojekt, das im Zuge der Massenmigration der Inder vom Land in die urbanen Zentren zunehmend an Bedeutung gewinnt.
In den Phantasien der staatlichen Planer sollen Dutzende Städte zu „smart citys“ verwandelt werden. Das Projekt findet auch bei ausländischen Gebern Anklang. In Hochglanzbroschüren werben ausgewählte Metropolen um Investitionen, bieten sich als Standorte für die Automobilproduktion oder die Biotechnologie und andere Zukunftsindustrien an. Ein durchgehender Schwerpunkt ist IT. Mit dem Digital India-Programm will Narendra Modi das südasiatische Schwellenland in ein neues Zeitalter befördern. Ortstermine in Bangalore, Hyderabad, in Chennai oder in Gurgaon zeigen, auf der Reise in die Zukunft hat es Fortschritte gegeben. Gleichwohl ist die Euphorie ins Stocken geraten: Die Wirtschaftspresse berichtet über fallende Margen und schwindende Arbeitsplätze. Für viele Inder ist das ein böses Erwachen, galt die IT-Branche doch lange als krisensicherer Wirtschaftszweig.
Hauptgrund für die Sorgen ist die um sich greifende Automatisierung. Nach Schätzungen der internationalen Arbeitsorganisation ILO sollen in den kommenden zwanzig Jahren 137 Millionen Arbeitsplätze in Asien Opfer der Robotik werden. Auch in Indien drängen Maschinen mit künstlicher Intelligenz die Menschen in die Arbeitslosigkeit. In besseren Zeiten hätten die derart Verstoßenen ein Auskommen, ja eine berufliche Karriere, im Ausland gefunden. Amerikas Silicon Valley ist Tummelplatz für Indiens IT-Experten, viele von ihnen haben es nach ganz oben geschafft. Doch im neuen Zeitalter von wirtschaftspolitischem Nationalismus und Protektionismus sind die Zugänge ins Ausland zunehmend verschlossen – nicht nur in den USA. Auch Australien und Singapur empfangen Inder nicht länger mit offenen Armen.
Laut der Wirtschaftszeitung MINT gehen in Indien jeden Tag 550 Arbeitsplätze verloren; die Zeitung zitiert eine Studie der Weltbank, dass bis zu 69 Prozent der indischen Arbeitsplätze der Automatisierung zum Opfer fallen könnten.
Sollte das Schock-Szenario eintreten, würden viele Millionen Inder in den informellen Sektor abfallen – dorthin, wo heute die große Mehrheit ihrer Landsleute ums tägliche Überleben ringt.
Dr. Ronald Meinardus ist der Leiter des Regionalbüros Südasien der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit (FNF) mit Sitz in Neu Delhi. Twitter: @Meinardus