Ausnahmsweise waren sich alle einig: Von einem historischen Tag, einem Jahrhundertereignis war die Rede. Die wichtigste Reform seit der Liberalisierung von 1991, sagten die einen, andere schwärmten von dem bedeutsamsten Reformprojekt seit der Unabhängigkeit Indiens im Jahre 1947. Wie auch immer: Die Zustimmung des Oberhauses des indischen Parlamentes zu einer Änderung der Verfassung, welche die Einführung einer landesweiten, einheitlichen Umsatzsteuer ermöglicht, ist in politischer wie ökonomischer Sicht ein epochaler Vorgang – und: ein Sieg der Vernunft.
Indien, die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens, leidet als Folge eines ausgeprägten Föderalismus an einem in hohem Maße dysfunktionalen Steuersystem. Von einem einheitlichen Wirtschaftsraum ist der Subkontinent mit seinen 1,3 Milliarden Menschen weit entfernt. Innerstaatliche Grenzkontrollen behindern Unternehmen, die Produkte von einem Landesteil in den anderen befördern. An den Posten kontrollieren Zöllner die Ladung und berechnen die lokalen Steuern. Eine Zahl aus der Welt der Logistik verdeutlicht die Situation: Während in Indien ein Lastwagen im Durchschnitt 250 Kilometer pro Tag zurücklegt, liegt der entsprechende internationale Durchschnittswert drei Mal höher.
Das erklärte Ziel der nationalen „Goods and Services Tax“ (GST) ist die Vereinheitlichung des fiskalpolitischen Flickenteppichs: „One nation, one tax“, lautet die Devise der Regierung, die sich nun – zu Recht – darüber freut, dass das Projekt die erste parlamentarische Hürde genommen hat – und zwar einstimmig.
Deutlicher Wachstumsschub
Optimisten erwarten, die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes werde der indischen Volkswirtschaft einen Wachstumsschub von jährlich zwischen 0,5 und 2,0 Prozentpunkten bescheren. Schon heute schmückt sich das südasiatische Land mit dem inoffiziellen Titel der am schnellsten wachsenden „großen“ Volkswirtschaft. Die Rate liegt nach aktuellen Berechnungen derzeit bei zwischen 6 und 7 Prozent.
Der Abstimmung in der Rajya Sabha, dem Oberhaus in Neu Delhi, war ein jahrelanges politisches Gerangel vorangegangen. Bereits 2006 hatte die Kongress-Partei, die heute auf den harten Bänken der Opposition sitzt, das Harmonisierungsgesetz eingebracht. Zu den Verhinderern zählte damals auch Narendra Modi in seiner Funktion als Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat. Die Motive der Blockade – so wissen wir heute – waren ausschliesslich parteipolitischer Natur. Einmal an der Spitze der Zentralregierung in Neu Delhi wurde das GST-Projekt zum wichtigsten Reformvorhaben Modis.
Dieser war 2014 mit dem Versprechen angetreten, das in weiten Teilen noch bettelarme Indien mit einem Modernisierungsschub in das neue Zeitalter zu hieven. Zig-Millionen Menschen warten auf den Sprung aus dem Elend in den Mittelstand. Modi weiss, dass er diese Menschen enttäuschen wird, wenn er nicht massenhaft Arbeitsplätze schafft. Dafür wiederum sucht er den Schulterschluß mit privaten Investoren aus dem In- und Ausland. Der Erfolg seiner „Make in India“-Kampagne, die darauf abzielt, den Investitionsstandort Indien attraktiv für Anleger zu machen, hängt ganz wesentlich auch von einer Vereinfachung des Steuersystems ab. Der nun so überschwänglich gefeierte Oberhaus-Beschluss ist allerdings nur ein erster Schritt. „Wir sind am Ende vom Anfang“, schrieb ein Regierungspolitiker im Kurznachrichtendienst Twitter und warnte vor zu viel Euphorie.
Politischer Marathon
Die Zurückhaltung liegt daran, dass der nun zustande gekommene Kompromiss zwischen Modi-Regierung, Opposition und den um Macht und Einfluß bangenden Einzelstaaten eben ein Kompromiss ist – mit vielen Ausnahmen und Sonderregelungen. So steht schon jetzt fest, es wird keine Einheitssteuer auf Spirituosen, Ölprodukte und Immobilien geben. Zudem: Die Umsetzung des Projektes in nationale Gesetzgebung wird ein politischer Marathon – mit offenem Ausgang: Zunächst muß eine Mehrheit der Einzelstaaten die Verfassungsänderung ratifizieren, sodann soll ein GST-Rat gebildet werden, in dem die Finanzminister der Zentralregierung und der Einzelstaaten die Höhe der neuen Einheitssteuer beschliessen sollen. Hier liegt der Hase im Pfeffer: die Positionen der Parteien liegen weit auseinander, im Gespräch sind 18 Prozent, die Rate könne aber deutlich erhöht werden, sagen andere.
Modi weiss, dass eine derartige Steuer einen inflationären Schub auslösen wird. Höhere Preise sind in einer Demokratie Gift für einen Politiker, der noch lange an der Macht bleiben will. Die nächste Parlamentswahl, die über die Zusammensetzung der nächsten Zentralregierung und damit das Schicksal Modis entscheiden wird, findet 2019 statt. Modi drängt daher auf eine möglichst schnelle Umsetzung des GST-Projektes. Schon im April des kommenden Jahres will er die Reform unter Dach und Fach haben, auf dass etwaige – kurzfristige – negative Nebenwirkungen am Wahltag vergessen sind.
Das ist der Wunsch des Premiers. In einer Sondersitzung des Unterhauses bezeichnete Modi das potentiell revolutionäre Gesetz Anfang der Woche als ein „win-win“ für alle Seiten. Die Opposition, die wenige Tage zuvor noch im selben Boot gesessen hatte, ruderte zurück und bestand auf einem möglichst niedrigen Steuersatz und ein Mitspracherecht bis ins kleine Detail. Die Botschaft ist klar: Die Opposition will verhindern, dass Modi am Ende als strahlender Sieger dasteht.
Dr. Ronald Meinardus ist Regionaldirektor Südasien für die Friedrich-Naumann-Stiftung (FNF). Vor seiner Zeit in Indien, lebte er viele Jahre in Ostasien und der arabischen Welt. Der gelernte Hörfunk-Journalist leitete unter anderem das FNF-Büro in Kairo.