Im Dorf Thet Kal Chaung in Myanmar trennen Bambuszäune die kleinen Grundstücke ab. Große Pappeln spenden Schatten, die Sandwege zwischen den mit Stelzenhäusern sind gepflegt. Auf einer Veranda spielen zwei Kleinkinder – Schrebergarten-Idylle mit tropischem Flair. Der massige SUV von Kyaw Moe Hein passt nicht ins Bild und dessen breite Reifen nicht auf die schmalen Pfade. Der Regional-Manager der US-amerikanischen Hilfsorganisation PACT parkt am Ortseingang und spaziert zur Gemeindehalle. „Diese Besuche vor Ort sind der beste Teil meines Jobs“, sagt der Burmese. „Hier sehe ich, wie das Geld bei den Menschen ankommt.“
Das Geld, das Kyaw Moe Hein bringt, unterscheidet sich von klassischer Entwicklungshilfe. PACT verteilt nicht einfach Zuschüsse an Bedürftige, sondern sogenannte Mikrokredite, die die Empfänger inklusive Zinsen zurückzahlen müssen. Die Organisation ist mit 650.000 Kunden landesweit die größte in dem Sektor und war eine der ersten, lange bevor die Regierung die Mikrofinanz in ihr Acht-Säulen-Programm zur Armutsbekämpfung aufnahm. Seit dem Ende der Militärdiktatur 2011 ist die Nation auf dem erklärten Weg zu Demokratie und mit den ersten freien Wahlen seit mehr als einem halben Jahrhundert hat sie im November 2015 einen entscheidenden Schritt dahin getan. Doch die laut UN 27 Prozent der Bevölkerung, die unterhalb der Armutsgrenze überleben müssen, bleiben ein drängendes Problem auch für die neue Regierung.
In Thet Kal Chaung deutet die Infrastruktur auf den Entwicklungsstand des Landes hin: keine Masten, die Strom bringen, Wege, die in der Regenzeit kaum passierbar sind, der Fluss als einzige Wasserquelle. Die Delta-Region an den Ausläufen des mächtigen Ayeyarwady lebt vor allem von Landwirtschaft und Fischfang – so auch die meisten PACT-Schuldnerinnen. Im Schneidersitz aufgereiht erwarten die knapp 50 Frauen Kyaw Moe Hein in der Gemeindehalle wie eine Klasse ihren Lieblingslehrer. Nach ihren Investitionen gefragt, schnellen die Arme in die Höhe und gleich alle wollen von ihren Mikro-Erfolgen erzählen – jede Geschichte eine Bestätigung für Muhammad Yunus.
„Man könnte den Eindruck gewinnen, das Konzept gehe reihenweise auf – jedenfalls wenn man sich die vielen Erfolgsgeschichten in den Prospekten der Geldgeberfonds durchliest.“Philip Mader, Institute of Development Studies, University of Sussex
Der Wirtschaftswissenschaftler aus Bangladesch entwickelte das Konzept in den 70er Jahren: Zweckgebundene Kredite über umgerechnet nur zwei- bis dreistellige Eurobeträge gehen an arme Menschen, überwiegend Frauen, im globalen Süden, die keinen Zugang zum Kapitalmarkt haben. Sie bauen sich mit dem Geld eine Existenz als Kleinstgewerbetreibende auf und profitieren von den Einkünften über die Kredittilgung hinaus. Als die Idee 2006 bereits weltweit boomte, erhielt Yunus für sie den Friedensnobelpreis.
Doch längst melden sich auch Kritiker. „Mikrofinanz basiert auf der Annahme, dass es armen Menschen nicht an unternehmerischen Fähigkeiten, Wohlstand oder öffentlicher Versorgung mangelt, sondern am Zugang zu Kapital. Armut wird damit als reines Finanzmarktproblem interpretiert“, so Ökonom Philip Mader in seiner Promotion. „Man könnte sogar den Eindruck gewinnen, das Konzept gehe reihenweise auf – jedenfalls wenn man sich die vielen Erfolgsgeschichten in den Prospekten der Geldgeberfonds durchliest.“ Tatsächlich gelinge nur einer Minderheit der weltweit rund 200 Millionen Mikroschuldner der Durchbruch.
Auch bei einem Spaziergang durch Thet Kal Chaung fallen als erstes die Erfolge auf. Thidar Soe zum Beispiel setzt sich mit erhobenem Kinn in ein schmales Fischerboot, die Lebensgrundlage ihrer Familie. „Wir haben neue Netze und sogar einen Motor gekauft“, berichtet sie stolz, während ihr Mann im Hintergrund ein Netz zusammenlegt. „Dank der Investitionen machen wir mehr Gewinn. Ich konnte davon den Kredit zurückzahlen und auch schon unser Haus renovieren.“ Narrative wie diese machen die Mikrofinanz populär – und täuschen gleichzeitig über ihre Schwächen hinweg.
Strenge Vorgaben sollen Wildwuchs in dem Sektor vermeiden, teilt die zuständige Behörde beim Finanzministerium auf Anfrage mit. Sanjay Sinha, Direktor der indischen Beratungsfirma Micro-Credit Ratings International (M-CRIL), kritisiert jedoch, dass zu viele Lizenzen vergeben wurde, „zumal bei einzelnen Organisationen der eigene wirtschaftliche Erfolg vor dem der Schuldner stehen dürfte“. Nur gut ein Zehntel der Lizenzen gingen an Nichtregierungsorganisationen wie PACT, ein Großteil an privatwirtschaftliche Mikrofinanzinstitute (MFI). „Es gibt bereits Bereiche, in denen sich die MFI auf die Füße treten“, sagt Sinha. „Ist der Kreditzugang wegen dieser Konkurrenz zu einfach, übernehmen sich die Mikroschuldner unter Umständen.“
In Sinhas Heimat führte das Überangebot zur Krise. Indien wurde geflutet von MFI und 2010 zeigte der Markt negative Auswüchse ähnlich dem amerikanischen Subprime-Markt vor dessen Zusammenbruch. Den später bankrotten US-Hausbesitzern wurden Hypotheken im Wert von 120 Prozent ihres Eigentums eingeräumt; in Indien bekamen die Armen Mikrokredite über 150 Prozent ihrer Besitztümer und das bei horrenden Zinsen von bis zu 100 Prozent. Immer neue kommerzielle Geldgeber drückten immer mehr Mikrokredite in den Markt. Schuldner machten neue Schulden, nur um alte abzubezahlen – und gerieten in eine aussichtslose Spirale. Mancherorts, etwa im Bundesstaat Andhra Pradesh, kam es Medienberichten zufolge zu regelrechten Selbstmordepidemien, weil Schuldner Suizid als einzigen Ausweg sahen.
Die Idee krankt aber nicht nur an Problemen der Ausführung: Um Armut über den Einzelfall hinaus zu besiegen, muss sich eine vielfältige Wirtschaftsstruktur von Unternehmen bilden, die langfristige und faire Beschäftigung bieten. Ein Signal in die Richtung war für Myanmar der kurz vor den Wahlen 2015 durchgedrückte und nicht unumstrittene Mindestlohn. Verdingen sich hingegen immer mehr Menschen als Ausweg aus der Armut als Kleinstgewerbetreibende, schafft das eine neue Konkurrenzsituation, in der sie sich im Preis immer weiter unterbieten. Tun sie das auf Kredit, enden sie in Schuldknechtschaft.
Sanjay Sinha relativiert die Kritik: Vor der Jahrtausendwende habe Mikrofinanz unkritisch als entwicklungspolitische Wunderwaffe gegolten, sei dann aber zunehmend als Ausbeutung der Armen in Verruf gekommen. „Die Wahrheit liegt sicherlich zwischen diesen Extremen. Es gilt, dass Konzept für die jeweiligen lokalen Bedingungen zu optimieren.“ In Myanmar sei der Sektor aktuell auf dem Entwicklungsstand von dem in Indien vor 15 Jahren. „Man sollte von den Fehlern der Nachbarn lernen – und ebenso von ihren Errungenschaften im Sinne der Armutsbekämpfung.“
Die mahnenden Schicksale aus Indien scheinen im idyllischen Thet Kal Chaung als ferne Schwarzmalerei. Gemeinsam ist den Frauen aber der Wunsch, an den Umbrüchen in ihrem jeweiligen Heimatland teilzuhaben. Allgemeiner Wandel soll sich auch in persönlichen Wohlstand übersetzen – und einen Mikrokredit versprach man ihnen als ersten Schritt dahin.
Die Recherchereise unterstützte die Heinz-Kühn-Stiftung mit einem Stipendium.
[…] Das Geschäft mit den Armen in Myanmar: Myanmars historischer Machtwechsel wurde diese Woche besiegelt. Zum ersten Mal seit mehr als einem halben Jahrhundert wählte das Parlament mit Htin Kyaw einen demokratisch legitimierten Präsidenten. Er steht vor großen Herausforderungen: Ein großer Teil der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Zahlreiche Anbieter von Mikrokrediten buhlen um die Armen als Kunden. Ob das den wirtschaftlichen Aufstieg beschleunigt, ist aber fraglich. Caroline Lindekamp war in Myanmar unterwegs und sieht die Gefahr einer Schuldenfalle, wie sie hier für 8MRD.COM berichtet. […]
Bitte lest doch vor Veröffentlichung nochmal über eure Artikel drüber.
Z.B. Sowas „Als die Idee 2006 bereits weltweit boomte, erhielt Yunus sie den Friedensnobelpreis.“
Da fehlt einfach mal ein Wort, was den Lesefluss erschwert und absolut kein(!) Einzelfall ist.
Ich hätte mir diesen informativen Artikel wirklich wirklich gerne durchgelesen, aber so ist es einfach nur anstrengend.
Danke für den Hinweis, wir haben den Fehler korrigiert.