Kaum ein Tag ohne terroristische Anschläge, die blutige Gewalt ist längst aus der nahöstlichen Kernzone des islamistischen Terrorismus in die Metropolen der Welt metastasiert. Die Ziele liegen in Europa, Afrika und nun in Asien. Letztes Opfer ist Jakarta, die Hauptstadt des Landes mit der größten Muslimbevölkerung der Welt.
Der südostasiatische Inselstaat zählte lange nicht mehr zu den Hotspots des internationalen Terrors, fast vergessen die Gewaltwelle Anfang des Millenniums, der Anschlag auf der Ferieninsel Bali, der über 200 Menschen in den Tod riss. Damals bekannte sich die regional operierende „Jemaah Islamiyah“ zu der Bluttat. Für den Anschlag in Jakarta, bei dem die fünf Angreifer und drei Unbeteiligte ums Leben kamen, hat die Terrormiliz IS die Verantwortung übernommen. Medien berichten, der Drahtzieher sei ein Indonesier, der in den Reihen des IS in Syrien kämpft.
Auch in Indien geht die Terror-Angst um, auch wenn die Bedrohungsvorstellungen hier längst nicht das Ausmaß erreicht haben wie in den aufgeschreckten westlichen Kapitalen. Indien ist auf der Weltkarte des islamistischen Terrorismus bis heute ein weisser Fleck geblieben. Die Inder assoziieren Terrorismus vor allem – durchaus reflexartig – mit dem Nachbarland Pakistan. Das hat Gründe, die vor allem in historischen Assoziationen liegen.
Immer wieder wurde Indien Zielscheibe von Terrorangriffen, deren Hintermänner im verfeindeten Nachbarland operieren. Den Höhepunkt erreichte der von außen gesteuerte Terrorismus im November 2008, als schwerbewaffnete Kämpfer die Wirtschaftsmetropole Mumbai angriffen und unter anderem ein Luxushotel in ihre Gewalt brachten. Bei den mehrtägigen Kämpfen kamen über 170 Menschen ums Leben. Was für die Amerikaner 9/11 ist für die Inder seither 26/11.
Experten in Neu Delhi werfen Pakistan „asymmetrische Kriegsführung“ vor: Mit einer Startegie der gezielten Nadelstiche wolle der Erzfeind Indien schwächen. Die indischen Regierungen haben angesichts der Provokationen auf militärische Vergeltung verzichtet. Zu groß ist die Gefahr, dass der Konflikt zwischen den südasiatischen Atom-Mächten in einem nuklearen Holocaust endet. Eine aktuelle Kostprobe des ferngesteuerten Terrorismus erlebten die Inder Anfang Januar, als eine halbes Dutzend schwerbewaffneter Kämpfer allem Anschein nach aus Pakistan einsickerte und eine grenznahe Luftwaffenbasis angriff. Drei Tage dauerten die Kämpfe in Pathankot; am Ende waren alle sechs Eindringlinge sowie sieben indische Verteidiger tot.
Die Auftraggeber hatten den Zeitpunkt der Attacke mit Bedacht gewählt. Nur einige Tage zuvor, war Indiens Ministerpräsident Narendra Modi völlig überraschend auf dem Rückflug aus Afghanistan in Lahore zwischengelandet für ein Treffen mit seinem pakistanischen Amtskollegen Nawaz Sharif. Es war der erste Besuch eines indischen Regierungschefs in Pakistan seit über zehn Jahren. Modi wollte ein Zeichen setzen, dass die Zeit reif sei für einen umfassenden Dialog.
Nicht allen in Pakistan schmeckt die Perspektive der Entspannung. Es ist mehr als eine immer wiederholte Vermutung, dass Teile des pakistanischen Militärs und der diversen Geheimdienste nicht an einer Beilegung der Streitigkeiten mit Indien interessiert sind – und deshalb immer wieder mit subversiven Methoden jenseits der Landesgrenzen die Gewalt schüren. „Wie kann Modi hoffen Frieden mit einer impotenten pakistanischen Regierung zu erkaufen, wenn diese ihre Autorität in der Außenpolitik und in Sicherheitsfragen an das Militär abgetreten hat“, fragt Brahma Chellaney vom Centre for Policy Research in Neu Delhi rhetorisch. „Indiens grösste Bedrohung liegt in der asymetrischen Kriegsführung, die über poröse Grenzen geführt wird“, bringt der Experte die Überzeugung der meisten Inder auf den Punkt.
Die Dominanz Pakistans in den sicherheitspolitischen Diskussionen in Indien bedeutet nicht, dass die Regierung in Neu Delhi die Gefahren, die vom islamistischen Terrorismus ausgehen, auf die leichte Schulter nimmt. Spätestens seit IS-Chef Abu Bakr Al-Baghdadi im Sommer 2014 auch Indien zum Einzugsgebiet des angestrebten Weltkalifats erklärte, schrillen bei den Geheimdiensten die Alarmglocken. Nach den Pariser Anschlägen hat das Innenministerium eine aktualisierte Bedrohungsanalyse veröffentlicht. Dort heisst es, dass es dem IS „nicht gelungen ist eine nennenswerte Präsenz in Indien zu etablieren“. Gleichwohl vermochte die Terrormiliz, einige indische Jugendliche zu radikalisieren. Dies habe die Gefahr von IS-gesponsorten Terroraktionen in Indien eröffnet, folgert der Bericht, aus dem die örtlichen Medien ausführlich zitierten.
Jeder zehnte Muslim auf der Welt ist Inder
Artithmetisch betrachtet ist Indien ein geeignetes Zielgebiet für islamistische Propaganda. Indiens muslimische Minderheit zählt 180 Millionen Menschen. Das heisst: Jeder zehnte Muslim auf der Welt ist indischer Staatsbürger. Nur in Indonesien leben mehr Muslime als in dem südasiatischen Land. Nicht unbegründet ist daher die Sorge, diese Menschen, die vielfach politisch und sozio-ökonomisch marginalisiert sind, könnten ins Fadenkreuz der Rekrutierungs-und Angriffsstrategien der islamistischen Terrormiliz geraten.
In den indischen Medien nimmt das Thema breiten Raum ein. In großem Detail berichten die Zeitungen immer wieder von der heimischen Anti-Terror-Front. Oft stützen die Redakteure ihre Texte allein auf nicht näher genannte Geheimdienstquellen. Die Berichte sind daher mit der gebotenen Vorsicht zu genießen. Schenken wir den Veröffentlichungen Glauben, so haben Indiens Behörden sehr genaue Vorstellungen vom Treiben des IS und seiner Zuarbeiter. Demnach haben sich bislang 23 – in Worten: dreiundzwanzig – indische Jugendliche der Miliz als Kämpfer im Nahen Osten angeschlossen; von diesen seien sechs bei Kampfhandlungen ums Leben gekommen. Ein Inder habe die Ränge gebrochen und sei reumütig in die Heimat zurückgekehrt.
Erstaunlich ist, dass die Medien in allen Fällen die Namen der betroffenen Menschen veröffentlichen; teilweise erscheinen auch Interviews mit besorgten Angehörigen. Gut dokumentiert sind die Methoden, mit denen die Islamisten indische Jugendliche für den Dschihad im Nahen Osten anlocken. Im Mittelpunkt stehen die sozialen Medien, die sich in Indien auch in ärmeren sozialen Schichten explosionsartig ausgebreitet haben. Über digitale Dienste wie Twitter, Facebook oder WhatsApp treten die Rekrutierer mit den Zielpersonen in Kontakt. Dabei sprechen sie vor allem solche Jugendlichen an, die durch pro-islamistische Kommentierungen oder „likes“ und „retweets“ aufgefallen sind. In einem nächsten Schritt kommen beide Seiten ins Gespräch. Am Ende der Kontaktanbahnung geht es um praktische Fragen der Reise in die nahöstliche Krisenregion und die dortige Aufnahme im Schoße der Terrororganisation.
Die Überwachung des Internets, vor allem der unzähligen Kommunikationsstränge in den sozialen Medien, ist die Speerspitze der indischen Anti-IS-Strategie. Hier arbeitet die Regierung in Neu Delhi intensiv mit ausländischen Geheimdiensten zusammen – zeitgleich und intensiv mit US-amerikanischen Diensten, den Israelis und den Arabern. So haben Indiens Außenbeziehungen zu Israel und Saudi-Arabien eine starke sicherheitspolitische Komponente. Diese gewinnt angesichts der Bedrohungen durch des islamistischen Terrorismus an Gewicht. Die „Times of India“ berichtete, der saudische Geheimdienst habe Neu Delhi vor dem Angriff auf die Luftwaffenbasis gewarnt. Wenn Indiens Außenministerin Sushima Swaraj Ende der kommenden Woche in offizieller Mission nach Israel reist, wird es nicht nur darum gehen, den für dieses Jahr geplanten Besuch Narandra Modis vorzubereiten. Die Inder wollen die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Terror-Gefahr vor allem im Internet verstärken, ein Bereich, in dem die Israeli exzellente Expertise vorweisen können.
IS-Propaganda stößt auf taube Ohren
Die indische Regierung rühmt sich, dass im Zuge der digitalen Vorwärtsverteidigung 150 namentlich bekannte Inder wegen pro-IS-Kommunikation im Internet aktenkundig sind und auf einer „schwarzen Liste“ geführt werden. Diese „Gefährder“ stehen unter Beobachtung und dürfen das Land nicht verlassen. Medienberichten zufolge haben die Behörden in 30 Fällen verhindern können, dass „Gefährder“ Indien in Richtung Syrien oder Irak verlassen.
Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Zahl der indischen IS-Rekruten verschwindend gering. Dafür sind einerseits die hier beschriebenen Überwachungsaktionen verantwortlich. Von Bedutung ist auch, dass die Propaganda-Botschaften des „Islamischen Staates“ offenbar bei der sehr großen Mehrheit der indischen Muslime auf taube Ohren stossen. Für die meisten Inder muslimischen Glaubens ist die arabische Welt eine andere Welt mit wenigen direkten Bezügen. Die heimischen Probleme stehen im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit und des politischen Interesses. „Man werde nichts unternehmen, was zu einer Verbreitung des IS Terrors in Indien beitragen könnte“, beantworte ein indicher Regierungsvertreter die Journalistenfrage, ob Neu Delhi sich an Militäroperationen gegen die Terrorallianz beteiligen werde. Zuvor hatte Verteidigungsminister Manohar Parrikar zu Protokoll gegeben, man könne sich „wenn es eine UN-Resolution“ gebe, an einer solchen Mission beteiligen, war dann aber postwedend seitens des Außenministeriums zurückgepfiffen worden. Es gehe hier um „eine hypothetische Situation“, Neu Delhi werde sich mit dem Thema befassen, wenn es aktuell wird.
Hat Indien also die tödliche Gefährdung durch den IS im Griff? Glaubt man den offiziellen Beteuerungen könnte man die Frage mit einem klaren „Ja“ beantworten. Doch erst die Zukunft wird zeigen, ob das Land mit der größten Muslim-Minderheit der Welt auf Dauer unbeschadet bleibt in einer eskalierenden Konfrontation, die viele längst zu einem globalen Kampf zwischen dem Westen und dem Islam hochstilisiert haben.
Mal wieder ein sehr anschaulicher und detaillierter Beitrag – super!
Eine Behauptung ist meines Erachtens nach etwas umstritten oder vielleicht einfach ungenau formuliert: Dass Indien „auf der Weltkarte des islamistischen Terrorismus bis heute ein weißer Fleck geblieben“ ist. Sicherlich haben al-Qaida oder der IS bis jetzt keine Anschläge in Indien verübt. Doch gerade Organisationen wie Lashkar-e-Taiba und Jamaat-e-Islami Pakistan haben schon viele Angriffe auf Indien auf ihrem Konto.
Mir fällt zu der Aussage ein kurzes Gespräch ein, das ich mit einem Mittvierziger in der Metro in Delhi führte. Er fragte mich, warum ich mich traue, überhaupt in Indien zu wohnen, sei das Land doch „the number one in terroristic attacks“. Klar, diese Zahl stimmt nicht. Und dennoch ist es den indischen Medien gelungen, die terroristische Gefahr wesentlich größer darzustellen, als diese ist.